Leseprobe aus Östlich von Sunanda – Teil I: Die Pinguin-Höhle und die Schatten der Vergangenheit:
Kapitel 1 – Ari und Junior
»Bist du schon fertig? Hallo? Anna-Luise? Anni?« Ungeduldig klopft Michael mit dem rechten Zeigefinger auf die Freisprechanlage seines Autos. »Hallo, hörst du mich?«
»Ja, Michael, ich höre dich wieder. Ich war gerade im Polardom, da ist immer eine schlechte Verbindung.«
»Okay, ich bin in zehn Minuten beim oberen Eingang.«
»Ich brauch‘ noch einige Minuten. Ich bin auf dem Weg nach hinten zum Nashorn-Haus. Der Zebra-Transporter steht noch dort. Sie fahren erst morgen früh los. Ich möchte mir das Fahrzeug genauer anschauen. Könntest bitte den Ari beim Portier abholen und eine Runde mit ihm drehen?«
»Vom Portier? Was hat er wieder angestellt, der Lauser?«
»Das war heute wirklich schlimm! Eine urpeinliche Situation. Ich darf ihn nur mehr mitnehmen, wenn er im Büro bleibt. Schade, er war hier den ganzen Tag beschäftigt. Die vielen Gerüche im Tiergarten haben ihm sichtlich Spaß gemacht.«
»Es wird Zeit, dass dein Bruder von der Reha zurückkommt und mit Ari wieder arbeiten geht. Sonst fadisiert sich das kleine Hundsi bei uns zu sehr.«
»Es dauert eh nimmer lange. Bisher lief ja alles problemlos. Nur heute, heute ist Ari beim Zebra-Transporter total durchgedreht. Und als er auch noch den Junior nicht ins Auto einsteigen lassen wollte …«
»Haha, der kleine Beagle hat wohl seinem Namen alle Ehre gemacht, Aramis bedeutet ja Löwe.«
»Nein, nein, nicht nur wie ein Löwe. Das war viel schlimmer …«
»Schlimmer? Ah geh‘! Das kleine Zwergerl mit den wunderschönen kastanienbraunen Augen. Er ist doch kaum größer als ein Pocket Beagle. Der Zwerg kann doch keiner Seele was zu Leide tun!«
»Eh nicht, sonst halt nicht«, stimmt Anni zu und erzählt aufgeregt weiter. »Zuerst hat er die Heuballen, die in den Transporter geladen wurden, wie verrückt angebellt. Auf einen Ballen ist er sogar rauf gehüpft. Und dann wollte er darauf herumbuddeln. Als ob dort etwas drinnen gewesen wäre. Nur mit Müh‘ und Not konnte ich ihn von dort wieder runterholen.«
»Hahaha, es hat sich sicher ein Mäuschen drinnen versteckt. Ari wollte es raus holen. Typisch Beagle, da ist wohl sein Jagdtrieb voll durchgebrochen, hahaha«, amüsiert sich Michael.
»Ich fand es nicht lustig! Die Kollegen haben schon herumgetuschelt. Dann wurde es erst so richtig schön peinlich! Wenn ein kleiner Beagle schwanzwedelnd zwischen den Leuten herumwuselt und sich dann plötzlich regungslos vor den Junior hinsetzt, ihn fixiert und nicht ins Auto einsteigen lassen will, ist das …«
»Ein passives Auffindeverhalten. Das kann nicht sein! Quatsch! Ari ist zwar ein Schnüffelhund, aber nein, du musst dich getäuscht haben!«, stellt Michael entschieden fest und schüttelt ungläubig den Kopf. »Sag‘ mal, wer bitte ist Junior? Meinst Du den Cousin der Chefin um x Ecken herum? Den, ähm, wie heißt der nochmal? TM, glaub ich. Hab‘ vergessen, wofür die Abkürzung steht. Weißt eh, der unfreundliche G’stauchte mit Halbglatze und Bierbauch?«
»T steht für Thorsten«.
»Ja, genau, stimmt. Erinnert mich immer an Goethe, hahaha, frei nach Goethe: ›Da steht er nun, der arme Tor‹ …«
»Hey, das war jetzt politisch nicht korrekt!«, antwortet Anni gespielt entrüstet und setzt mit einem genervten Unterton fort: »Genau, diesen Typen meine ich. Seit er sich aufführt, als ob er der Juniorchef wär‘, sagen alle nur mehr Junior. Und es scheint ihm zu gefallen.«
»Ja, ja, du mit deiner politischen Korrektheit«, erwidert Michael spöttisch, während er das Auto auf dem Tiergarten-Parkplatz einparkt. »Ich bin schon auf dem Parkplatz. Die Naschies für Ari sind im Kofferraum, gell?«
»Ja, die Naschies sind links hinten in der Tasche mit dem Wassernapf. Lass‘ ihn nicht ohne Leine laufen, so wie er heute drauf … aahh …«
»Ja, klar! Ich habe keine Lust, ihn stundenlang im Wald zu suchen. Bitte beeil‘ dich, es wird gleich dunkel. Hallo? Anni? Bist du noch dran? Anna-Luise, hallo? Geh‘ bitte, ich hör‘ nur mehr Geknackse … Anni, bist du noch da? Mist, schon wieder schlechter Empfang!«
Genervt tippt Michael auf das rote Telefon auf dem Display seines Smartphones und beendet den Anruf. So hört er nicht mehr Annis verzweifelte Hilferufe, die immer leiser werden und sich mit aufgeregtem Vogelgezwitscher vermischen. Nach wenigen Minuten ist beim Nashorn-Park nur mehr ein leises Wimmern und das Gemeckere von Panzernashorn Sunanda zu vernehmen.
Kapitel 2 – Suchen und finden
»Ein neuer Anbieter wird fällig, so kann das nicht weiter gehen«, murmelt Michael halblaut vor sich hin, während er ein Sackerl mit Naschies für Ari und eine kleine Flasche stilles Mineralwasser aus dem Kofferraum nimmt. Als er die Kofferraumtür wieder schließt, gleitet sein Blick nachdenklich über den fast leeren Besucherparkplatz Richtung Tiergarten. Seit er nicht mehr im Tiergarten arbeitet, muss er diesen Parkplatz benutzen. Es läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Ist es der Gedanke an die Geschehnisse im Tiergarten, der ihn frösteln lässt? Oder ist es nur die kälter werdende Abendluft des Frühsommers? Mit einem tiefen Seufzer holt Michael eine alte, dunkelgrüne Arbeitsjacke von der Rückbank seines Autos. »Die muss ich noch zurück geben, hab’s total vergessen« sagt er mahnend zu sich selber. »Is‘ wurscht. Die zieh‘ ich jetzt an. Mir wird kalt, ich will mich nicht verkühlen.« Die Naschies und die kleine Wasserflasche verstaut er sorgsam in den großen Taschen des alten Parkas. Den ausgebeulten Taschen sieht man an, dass sie schon für Vieles als Stauraum gedient haben.
Auf dem Weg hinunter Richtung Portier überkommt ihn schleichend ein seltsames Gefühl. Von Minute zu Minute wird Michael nervöser. Ist es die Rückkehr zu seinem ehemaligen Arbeitsplatz oder ist es wieder Mal sein sechster Sinn? Dieser hatte sich bisher noch nie geirrt. Einige Kollegen hatten ihn deswegen für etwas verrückt erklärt. Er spürte, wenn es einem Tier nicht gut ging. Auch wenn die anderen gesagt hatten, es wäre alles in Ordnung. Michael lag damit jedes Mal hundertprozentig richtig.
Immer wieder holt Michael sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählt Annis Telefonnummer. Zuerst ertönen Besetztzeichen. Dann folgt eine monotone Tonbandstimme: »Der gewünschte Teilnehmer ist derzeit nicht erreichbar.« Da war ihm klar, dass etwas mit seiner Anni nicht stimmte.
Die letzten fünfhundert Meter zum Portier legte Michael im Laufschritt zurück. Das Tor bei der Einfahrt zum Wirtschaftshof stand noch offen. So konnte er gleich zum kleinen Haus hinter dem Haupttor eilen. Auch die Tür zur Portierloge stand offen. Vorsichtig warf er einen kurzen Blick in den Raum hinein. Zu seiner großen Erleichterung entdeckte er einen alten Bekannten im Haus drinnen. Vor einem Bildschirm saß ein blasser, kleiner, hagerer Mann um die Sechzig auf einem alten, ausgeleierten Bürosessel. Die Auswirkungen jahrzehntelanger Nachtdienste sind in seinem Gesicht nicht zu übersehen. Der alte Portier scheint alleine zu sein. Sein Lieblingsradiosender läuft mit Country Songs, der zweite Bürosessel im Raum wirkt verlassen. Ein angenehmer Duft von frischem Kaffee durchzieht den Raum. Michael macht sich durch leises Klopfen an die angelehnte Tür bemerkbar.
»Hallo, Michael, komm rein! Trau‘ dich ruhig, es ist eh keiner da. Magst einen Kaffee? Ich habe einen Frischen gemacht. Wie geht es dir? Was machst du hier? Ich hab‘ dich schon ewig nimmer gesehen. Du warst nicht mehr da, seit …«, der Portier räuspert sich und blickt verlegen zu Boden. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass ihm das rausgerutscht ist.
»Guten Abend! Servus, Markus! Sag‘ es ruhig, seit ich von der neuen Chefin gegangen wurde. Mir geht’s gut, danke. Ich möchte den Aramis abholen.«
»Bitte wen?«
»Aramis. Ari. Der Hund von Anna-Luise!«
»Achso, du meinst den Beagle. Der schläft tief und fest in der Box hinten. Warum hat Anna-Luise ihn nicht mit genommen, als sie nach Hause gegangen ist?«, fragt Markus mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Wie meinst du? Sie ist doch noch da!«, erwidert Michael verwundert.
»Nö, ist sie nicht. Vor wenigen Minuten hat es bei der Schichtübergabe geheißen, dass schon alle weg sind. Nur der Junior hockt noch in seinem Büro. Und dass der Hund noch hinten in seinem Körbchen in der Hundebox schläft.«
»Markus, bitte, schau‘ nochmal in deinem weisen Computer nach, Anni muss noch im Tiergarten sein. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert, da war Anni auf dem Weg nach hinten zum Nashorn-Park. Plötzlich ist die Verbindung abgebrochen, seither erreiche ich sie nicht mehr.«
»Schau‘ hier, hier steht’s. Sie hat sich vor 20 Minuten ausgetragen.« Markus zeigt mit einem Kuli auf einen Eintrag auf dem Monitor. Als er sich dabei zu Michael umdreht, sieht er durch das Fenster, wie jemand das große Elektro-Cart vor dem Portier-Häuschen abstellt. Voller Panik fuchtelt er mit den Armen Richtung Nebenraum. »Jessas, schnell, der Junior kommt, geh‘ da hinein! Er darf dich hier auf keinen Fall sehen! Wenige Wochen vor der Pensionierung kann ich solchen Ärger nicht gebrauchen!«
Hektisch springt der alte Portier aus seinem Sessel hoch, läuft zur Tür und baut sich breitbeinig im Türrahmen des Portier-Häuschens auf. »Grüß‘ Sie, guten Abend! Ja, ich mache das Tor nach Ihnen zu. Natürlich. Gerne. Wiedersehen, bis morgen – hoppla, ich meinte, bis nächste Woche, Sie fahren ja morgen mit dem Zebra-Transporter mit. Gute Fahrt, Herr Vize-Direktor!« Er drückt danach auf den Schließknopf der Torautomatik, die an der Wand im Portierhaus angebracht ist. Der Portier vergewissert sich mehrmals, dass sich das Tor hinter Junior geschlossen hat, bevor er erleichtert »Du kannst wieder raus kommen« ruft.
Vorsichtig steckt Michael den Kopf aus dem Nebenraum. »Ist er weg? Puh, das war knapp. Danke, Markus. Danke, dir!«
»Gott, meine Nerven. Ja, das war ordentlich knapp. Jetzt ist mir heiß geworden«, schimpft der alte Portier und wischt sich einige Schweißperlen mit zittrigen Fingern von der Stirn.
»Hast du vorhin Vize-Direktor gesagt?«, fragt Michael ungläubig. »Seit wann ist dieser Heini der Vize-Direktor? Mit welcher Qualifikation bitte?«
Der Portier schaut Michael zustimmend an und zuckt mit den Schultern. »Hat halt gereicht, dass er angeblich mit der Chefin irgendwie verwandt ist. Und den ganzen Tag um sie herum schurlt und ihr wie ein Hündchen nachrennt«, antwortet er spöttisch und ergänzt mit einem spitzbübischen Grinsen: »Irgendwelche Qualitäten wird er schon haben. Wetten, der ist nie und nimmer mit ihr verwandt. Des is‘ ihr Haberer …«.
»Geh‘ bitte, was du schon wieder glaubst! Er könnte vom Alter her ihr Sohn sein«, unterbricht Michael, bevor der alte Portier sich noch weiter über den Junior auslässt. Da bemerkt er, wie jemand ein kleines Elektro-Cart vor dem Portier-Häuschen abstellt und zur Tür des Portier-Häuschens geht. »Oh, nein, da kommt schon wieder wer? Wer ist das? Ich geh‘ schon nach nebenan!«, aufgeschreckt huscht Michael zurück in den Nebenraum.
»Bleib‘ da, keine Sorge! Das ist nur Dirk, mein neuer Kollege. Voll nett, dem können wir vertrauen. Er redet wenig und kennt sich gut mit dem neuen System am Computer aus. Genau nach meinem Geschmack. Vor dem brauchst dich nicht zu verstecken«, beruhigt Markus.
Der neue Portier zündet sich vor der Tür eine Zigarette an. Er weiß, dass Markus keinen Zigarettengeruch im Portier-Häuschen duldet. Er stellt sich quer in den Türstock, nimmt einen tiefen Zug und hält dann die Zigarette mit einer Hand bei der Tür raus. Mit der anderen Hand winkt er ins Haus Richtung Markus. »Servus, Markus. Jetzt war ich wieder umsonst oben beim Tirolerhof. Anscheinend wieder ein Fehlalarm beim Eingang. Seit die Alarmanlage getauscht wurde, gibt es nur mehr Ärger mit den Toren. Sag mal, wer bitte hat am Nachmittag das große Elektro-Cart benutzt? Ich musste das kleine Cart nehmen. Des Teil packt die Steigung zum Tirolerhof rauf nur mehr mit Ach und Krach!«
»Servus, Kollege. Net ärgern. Ich hab‘ mich schon gewundert, wo du abgeblieben bist. Die Überwachungskamera beim oberen Tor ist vorhin auch ausgefallen. Die neue Anlage ist einfach nur Mist. Mich wundert es nicht, genau die wollte der Junior unbedingt haben. Apropos Junior, er ist zuletzt mit dem großen Cart unterwegs gewesen. Hat es vorhin erst hier abgestellt«, erklärt Markus.
»Der Tagdienst hat den Wagen erst am Nachmittag gründlich gereinigt. Jetzt ist er voller Dreck und Heu. Horch‘ mal, Markus! Was Komisches war heute oben beim Tor. Es hat jemand einen Kübel mit Heu und einem Arbeitspulli drinnen stehen lassen. Ich hab‘ den Kübel mitgenommen. Ich rauch‘ noch fertig, dann bring‘ ich den Kübel rein und stell‘ ihn dort hinten in die Ecke.«
»Passt, werde ihn dem Frühdienst mitgeben. Der kann den Kübel samt Pulli in den Aufenthaltsraum mitnehmen. Was anderes, sag‘ mal Dirk, du kennst dich doch gut mit dem neuen System aus. Kannst du nachschauen, bei welchem Tor sich jemand heute Abend abgemeldet hat? Der Michael ist da, er will die Anna-Luise und den Beagle abholen. Aber im Kastl steht, dass sie schon gegangen ist. Das ist voll komisch.«
»Ah, du bist der Michael, hallo! Hab‘ nur Gutes von dir gehört«, sagt der junge Portier Richtung Michael und setzt sich zum Monitor. »Dann schauma mal. Also, die Anna-Luise ist für heute ausgecheckt.«
»Bist du dir sicher?«, fragen Michael und Markus gleichzeitig.
»Ja, definitiv. Aber, hmmm, hier, sie hat sich nicht mit der Zeitkarte ausgecheckt. Das wurde händisch gemacht. Äußerst dubios. Die Zeitkarten haben heute alle funktioniert, es gab keine einzige Fehlermeldung. Wieso sollte man da jemanden händisch austragen? Und es steht auch nicht dabei, bei welchem Tor sie raus gegangen ist. Sehr seltsam, sehr seltsam. Und noch seltsamer, es steht nicht dabei, von wem sie ausgetragen wurde. Hmmm, ich wusste gar nicht, dass das so überhaupt geht.«
Die drei Männer starren den Monitor mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. »Da stimmt doch etwas vorn und hinten nicht«, stellt der alte Portier entsetzt fest. »Ich sag‘ euch, der Junior hat was damit zu tun. Seit der da ist, passieren lauter komische Sachen. Seltsame Unfälle. Dinge verschwinden. Dann vergisst jemand, Verbindungstüren zuzumachen. Oder eine Anlage abzuschließen. Erst letzte Woche bei den Bisons. Da stand das Bison-Baby schon beim offenen Tor. Der Papa nur wenige Meter dahinter. Zum Glück waren keine Besucher mehr da. Also, ich möchte dem Bison-Bullen nicht außerhalb der Anlage begegnen. Schon gar nicht, wenn das Bison-Baby dabei ist.«
»Stimmt, lauter komische Sachen«, bekräftigt der junge Portier.
»Und das alles in deinem früheren Revier, Michael«, sinniert Markus weiter. »Die Hälfte von deinem ehemaligen Team ist im Krankenstand oder beurlaubt.«
»Des heißt net beurlaubt, des heißt suspendiert! Wegen Dienstpflichtverletzungen. Was immer das auch heißen mag«, korrigiert der junge Portier. Und wiederholt spöttisch »Suspendiert wegen Dienstpflichtverletzung« und deutet dabei Anführungszeichen mit den Fingern an. »Wie auch immer, Michael, probier’s nochmal bei Anna-Luise. Es ist schon finster draußen. Sie wird wohl kaum jetzt noch im Tiergarten herumgeistern.«
»Nun komm‘ ich schon wieder gleich in die Sprachbox. Glaubt mir, da stimmt etwas nicht. Sie war auf dem Weg nach hinten zum Nashorn-Park und seither ist sie nicht mehr erreichbar«, sagt Michael mit banger Stimme.
»Hmm, dann müssen wir sie suchen gehen. Hearst, du hast doch den Hund da! Der kann sie sicher finden. Anna-Luise hat mal irgendwas von Ausbildung erzählt, der kann das doch«, meint Markus aufmunternd zu Michael.
Michael schüttelt heftig seinen Kopf. »Das ist ein Beagle! Wenn ich den ohne Leine laufen lasse, ist der für Stunden weg. Wir finden ihn vor morgen früh nicht wieder. Ja, er ist ausgebildet! Aber er ist kein Fährtensuchhund. Er ist ein Artenschutzhund beim Zoll. Er findet geschmuggelte exotische Tiere im Gepäck, Bushmeat und Rhino-Horn«, entgegnet Michael und ergänzt nach einer kurzen Pause: »Und Bargeld, geschmuggeltes Bargeld, das findet er jetzt auch. Das hat er aber erst vor kurzem gelernt, das kann er noch nicht besonders gut. Er ist aber nicht dafür ausgebildet, Menschen zu finden. Das kann er nicht.« Nachdenklich blickt Michael in die Ferne und fügt halblaut »Wir müssen Anni suchen« hinzu.
»Was bitte ist Bushmeat?«, fragt der junge Portier. »Das habe ich noch nie gehört.«
»Da hast du nichts verpasst«, antwortet Michael und erklärt weiter: »Bushmeat ist geräuchertes Fleisch von gewilderten Wildtieren aus Afrika, manchmal auch aus Asien und Südamerika. Es ist oft auch das Fleisch von geschützten Affen und Schuppentieren oder sogar Elefanten und so. Es wird illegal von Afrika nach Europa und in die USA geschmuggelt. Das Fleisch wird meist an Ort und Stelle zerkleinert und geräuchert. Es ist ja nicht nur, dass geschützte und gefährdete Tierarten deswegen gewildert werden. Dabei können auch Seuchen von Tieren auf den Menschen übertragen werden. Es gibt in Europa einige Restaurants in afrikanischen Communitys, da gilt Bushmeat als Delikatesse. Und bei einigen Voodoo-Zeugs gehört Bushmeat von Äffchen dazu. Da werden oft auch Gorilla-Hände und Affen-Köpfe verwendet.«
»Wäh, hör‘ auf! Danke, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Mir wird schon schlecht«, unterbricht ihn der junge Portier mit einem angewiderten Ausdruck im Gesicht. Alleine der Gedanke an getötete und zerkleinerte Äffchen löst bei ihm beinahe einen Brechreiz aus.
Michael versucht weiterhin, Anni anzurufen. Immer wieder meldet sich nur das Tonband mit der Ansage, dass der Anschluss derzeit nicht erreichbar wäre. Das ungute Gefühl in der Magengegend lässt Michaels Stimme beinahe versagen. Vor lauter Sorge kann er nur halblaut »Da stimmt ganz sicher etwas nicht. Wir müssen Anni sofort suchen gehen« murmeln.
»Hast recht, wir beide gehen sie suchen. Komm‘, Michael, wir fahren mit dem großen Elektro-Cart, da ist mehr Platz. Ich muss ohnehin meine erste Abendrunde drehen. Dirk hält hier die Stellung«, versucht Markus zu beruhigen. »Mach‘ dir keine Sorgen, wenn sie noch im Tiergarten ist, werden wir sie finden! Vielleicht ist ja nur der Akku leer und sie wartet schon längst zuhause auf euch beide.«
In der Zwischenzeit wurde die Dämmerung draußen vollständig von der Dunkelheit verdrängt. Der Himmel wirkt unheimlich, in einer besonderen Art und Weise unwirklich. Die Sterne sind durch zahlreiche tiefhängende Wolken verdeckt. Es ist kurz vor Neumond, die schmale Sichel des abnehmenden Mondes hat nicht mehr genug Leuchtkraft, um die Finsternis etwas abzuschwächen. Lediglich die Lichtkegel der beiden Scheinwerfer erhellen einige Meter des Weges direkt vor dem Elektro-Cart. Es ist windstill. Wie eine Ruhe vor dem Sturm. Etwas Bedrohliches liegt in der Luft. Nicht einmal die Löwen und die Tiger lassen ihr übliches Abendgebrüll über den Tiergarten erschallen.
Die beiden Männer sitzen schweigend nebeneinander im Elektro-Cart. Markus lenkt den Wagen langsam und vorsichtig. Voll konzentriert versucht er, in der Mitte des Weges zu bleiben. Seine beginnende Nachtblindheit macht ihm bereits seit längerer Zeit zu schaffen. Sein Augenarzt meinte, er solle zum Tagdienst wechseln. Doch so wenige Monate vor der Pensionierung auf die Nacht-Zulagen zu verzichten, das wollte er nicht. Jeder Cent zählt für die spätere Pension. Bei seiner Gehaltsstufe wird er ohnehin keine großen Sprünge machen können. Daher versucht der alte Portier, seine nächtlichen Augenprobleme geheim zu halten. Seine vorgeschriebenen Runden im Tiergarten macht er mit Abkürzungen, damit es nicht auffällt, wenn er zu lange wegbleibt. Problematische Wege lässt er immer häufiger weg. So war er schon länger nicht mehr oben beim Tirolerhof. Die siebzehnprozentige Steigung des Weges würde er hinauf ja noch irgendwie schaffen. Aber das Gefälle auf dem Rückweg hinunter, davor hat er tagsüber schon Angst. Und ist jetzt mit seiner Nachtblindheit, ein absolutes No-Go für den alten Mann. Bei Alarm oben beim Tor schickt er den jungen Kollegen, der düst ohnehin gerne mit den Elektro-Carts herum.
Michael starrt gedankenversunken auf den asphaltierten Weg, der das Licht der Leuchtkegel vor ihnen reflektiert. Fünfundzwanzig Jahre lang war er wohl tausende Male diesen Weg entlang gefahren und gegangen. Zu jeder Jahreszeit, zu jeder Tageszeit, bei jedem Wetter. Zuerst als Lehrling, dann als Tierpfleger und die letzten Jahre als Bereichsleiter. Dann kam die neue Direktorin. Und ihr angeblicher Cousin. Wenige Tage später brachte der Zoll wieder einmal einen Koffer voller geschmuggelter Eier von geschützten, exotischen Tieren. Einige Echsen waren schon geschlüpft, etliche Tiere lebten nicht mehr. Wie immer, übernahm Michaels Revier einen Teil der Tiere, um bei der Pflege mitzuhelfen. »Ich hätte am nächsten Tag nicht früher in den Dienst kommen sollen. Vielleicht habe ich mich doch getäuscht und nicht den komischen Cousin und einen Fremden aus dem Nashorn-Haus kommen sehen. Vielleicht habe ich mich verzählt, und es hat doch keine der Schmuggel-Echsen gefehlt. Ich hätte es nicht gleich in der Verwaltung melden sollen.« Wirre Gedanken schwirren in seinem Kopf herum.
»Willst du jetzt zum Zoll wechseln, Michael?«, unterbricht Markus die unerträgliche Stille.
Michael zuckt erschreckt zusammen. »Nein, wie kommst du darauf?«
»Weil ihr jetzt den Beagle habt, einen abgerichteten Beagle. Er ist ein bisserl klein, aber ein liebes Hundserl.«
»Nein, nein, das ist nur unser Pflegehund. Der Bruder von Anni ist beim Zoll. Er wurde bei einem Einsatz verletzt und ist jetzt auf Reha.«
»Anna-Luise und du seid zusammengezogen? Seid ihr zusammen? Ja?«
»Ja, nein, ich weiß nicht. Wir sind gute Freunde, ja gute Freunde.«
»So wie ihre Augen leuchten, wenn sie von dir spricht, hätt‘ ich mir gedacht, ihr seid zusammen. Aber ihr wohnt zusammen, oder? Wenn das der Junior erfährt, fliegt Anna-Luise sicher raus. Er hat sie eh schon von der Verwaltung in die Futterzucht zu Mäusen und Ratten verbannt. Eine Verwaltungspraktikantin im Wirtschaftshof in der Futterzucht. Bloß weil er meint, er hält es nicht aus, dass jemand den zweiten Schreibtisch in seinem Büro benützt. Total verrückt, wie der Junior selbst!«
»Ja, das ist verrückt, absolut verrückt«, nickt Michael zustimmend. »Sag‘ mal, wofür ist dieser Junior eigentlich zuständig?«
»Keine Ahnung. Er ist halt Vize-Direktor. Er mischt sich überall ein. Er brüllt gerne durch die Gegend. Und er lässt sich mit den Tiertransporten herum kutschieren. Natürlich nur ins Ausland. Innerhalb von Österreich ist er noch nie mitgefahren.«
»Seltsamer Vogel. Ich bin froh, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun habe«, antwortet Michael.
Als sie in die Nähe des Pelikanteiches kommen, zieht Michael die Nasenflügel hoch und schnüffelt angewidert aus dem türlosen Elektro-Cart raus. »Die Pumpen beim Teich sind verstopft. Die gehören dringend gereinigt. Den ›Duft‹ riecht man bis hierher!«
»Hey, du arbeitest nicht mehr hier. Aber du hast recht, der Teich stinkt. Ich werde es morgen in der Verwaltung hinterlegen. Es wird aber ewig dauern, bis was gemacht wird. Falls überhaupt was gemacht wird …«.
»Ja, bist narrisch!«, unterbricht Michael bei der Zufahrt zum Nashorn-Park empört. »Wie kann man einen Transporter derart bescheuert abstellen? Wenn der zum Rollen beginnt, landet er im Pool der Nashörner. Und so quer, wie der steht, kann auch kein Mensch vorbei! Anni hat doch was von einem Zebra-Transport erzählt, wieso steht der Transporter hier und nicht bei den Zebras?«
»Gute Frage, keine Ahnung«, antwortet Markus nachdenklich. »Auf dem Plan steht ein Zebra-Transport nach Polen, irgendein kleiner Wildpark, den Namen kann ich nicht aussprechen. Warum der Transporter jetzt bei den Nashörnern steht, versteh‘ ich auch nicht.«
In diesem Moment steigt Markus unvermittelt voll auf die Bremse. Wenige Meter vor dem Transporter spiegelte sich das Licht der Scheinwerfer in einem kleinen Gegenstand auf dem Boden, das Markus blendete. Michael kann sich gerade noch mit den Händen am Chassis abstützen, damit er nicht mit dem Kopf gegen die Scheibe des Carts knallt. »Da liegt etwas auf dem Boden!«, ruft Markus aufgeregt und springt schon aus dem Cart. Michael steigt ebenfalls aus und geht ihm nach. »Schau, da liegt ein Telefon mitten auf dem Weg! Das ist eindeutig kein Diensttelefon.«
»Oh mein Gott, das ist Annis Mobiltelefon. Anni muss hier irgendwo in der Nähe sein!«
»Anna-Luise!«, »Anni, wo bist du?«, »Anni«, rufen die beiden Männer halblaut. Sie wollen die Nashörner nicht erschrecken. Diese könnten in Panik geraten und sich verletzen. Michael leuchtet mit der Taschenlampe seines Smartphones Richtung Nashorn-Haus. Markus sucht mit der Taschenlampe auf der anderen Seite Richtung Nashorn-Pool.
»Aua! Autsch! Mist, was ist das denn?«, hört Michael plötzlich den alten Portier vor sich dahin schimpfen. »Michael, komm‘ her, das musst du dir anschauen. Was soll das? Ich wäre fast drüber gefallen«, ruft Markus zu Michael rüber.
Michael eilt zur anderen Seite des Transporters. »Oh, mein Gott, das gibt’s doch nicht! Markus, ich mach‘ ein Video davon, das glaubt uns sonst kein Mensch! Wenn der Frühdienst das nicht sieht, fliegt er mit seinem Fahrrad in hohem Bogen kopfüber in den Nashorn-Teich. Ich darf gar net dran denken, was da alles passieren könnte, wenn da ein Nashorn in der Außenanlage ist.«
»Noch dazu, wo morgen der Pool gereinigt werden soll und heute das Wasser schon abgelassen wurde. Der reinste Wahnsinn! Unpackbar! Und wieder in deinem ehemaligen Revier!«, fügt Markus aufgeregt hinzu.
Entsetzt starren die beiden Männer auf den Boden. Zwischen dem Transporter und dem Grünstreifen vor dem Nashorn-Teich ist ein kaum erkennbares, dünnes Seil wenige Zentimeter über dem Boden gespannt. »Hast Recht, mach‘ ein Video davon, Michael!«
Gerade als Michael eine Videoaufnahme startet und die Kamera seines Smartphones langsam am gespannten Stahlseil entlang führt, vernehmen die beiden ein seltsames Geräusch aus Richtung der Außenanlage der Nashörner.
»Sag‘ mal, was ist das für ein Geräusch? Die Nashörner sind doch laut Plan heute Nacht drinnen, damit die Reinigungsarbeiten morgen gleich in der Früh gemacht werden können. Horch‘ doch, Michael, was ist das?«
»Suni? Suni-Maus? Jessas, das ist Sunanda! Sunanda ist im Pool!«, brabbelt Michael geschockt vor sich hin. Von Panik erfasst dreht er seinen Kopf angstvoll Richtung Pool. »Lieber Gott, bitte lass‘ Anni nicht im Pool drinnen liegen. Anni, Anni bist du da? Anni, wo bist du?«
© Jola Belik, Auszug aus „Östlich von Sunanda – Teil I: Die Pinguin-Höhle und die Schatten der Vergangenheit„. Vervielfältigung und Veröffentlichung ohne vorheriger schriftlicher Genehmigung nicht gestattet.
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